Im Januar 2019 glückte Michaela und mir die Erstbegehung einer weiteren wilden Winterkletterroute am Aggenstein. Hier findet ihr einen Bericht, sämtliche Routeninfos sowie ein Topo zu "Morbus Brexit".
Januar 2019. Es schneit, und schneit, und schneit, zumindest in weiten Teilen der Alpen. Dort haben die Leute mitunter ganz andere Probleme, als dass sie nicht draußen klettern könnten – eh klar. Dennoch bin ich im Kopf in den Wänden. Während in den Dolomiten gute Eiskletterbedingungen herrschen, geht im Allgäu, meinem Lieblingsgebiet fürs alpine Mixedklettern, nicht viel. In den Wänden hängen Unmengen Schnee, es sei denn, sie sind durchgängig sehr steil…
Eine solche, ordentlich steile Wand, ist die Nordostwand des Aggensteins. Und wieder, obwohl der Herbst so trocken war, hat sich diese kühne Eisspur gebildet, die herausfordernd in der Mitte der Wand klebt und auf direktem Wege zu einem Dachriegel führt. Es sind die besten Zutaten für ein weiteres Abenteuer am Aggenstein, dem Berg mit den vielen Gesichtern und unzähligen Möglichkeiten. Im Winter im Hochgebirge zu klettern mag wenig erstrebenswert klingen, aber mich fasziniert es, seit ich begonnen habe, die Berge eigenständig zu erkunden.
„Jung stirbt, wen die Götter lieben“, so heißt die Route, die Finn Koch und ich im Winter 2016/17 am Ostgipfel eröffneten – mit gemischten Gefühlen, denn es war klar, dass wir diese Route Lorenz, unserem verunglückten Freund widmen würden (Xari, ein weiterer gemeinsamer Freund, verunglückte im Januar 2018 – „Jung stirbt, wen die Götter lieben“ ist beiden gewidmet). Ich wusste, dass ich allein aus diesem Grund nicht weniger als mein Bestes geben durfte und sah mich immer der Fragestellung ausgesetzt, ob unsere Route erfüllen kann, was ich von ihr erwartete, nämlich zu einer würdigen Erinnerung an einen herausragenden jungen Alpinisten zu werden.
Diesmal nähern wir, Michaela Schuster und ich, uns ganz unbeschwert unserem Ziel. Einfach mal sehen, was die geplante Linie hergibt. Nach einer gutmütigen ersten Länge führt ein exponierter Quergang in den zentralen Teil der Wand, wo auch die „Direkte Nordwand“ aus dem Jahr 1965 verläuft. Besonders beliebt war diese Route im steilen, brüchig-grasigen und oft nassen Gemäuer nie. Wahrscheinlich wurde sie auch länger nicht mehr geklettert, denn ein paar der alten Schlaghaken lassen sich praktisch von Hand aus dem Fels ziehen. Eineinhalb Seillängen folgen wir der historischen Route, bis sich die Wege wieder trennen. Ich bohre einen weiteren Standplatz auf einer ausgesetzten Kanzel. Die Seile hängen hier ins Leere, was den nächsten Metern spannender Mixedkletterei zusätzliche Würze verleiht.
Etwas Eis, dünn und mit Schneeeinschlüssen, mitten in einer steilen Felswand – so sieht das Objekt der Begierde aus, das jetzt erreicht ist. Indem wir daran klettern wird aus der gefrorenen Materie die beste Seillänge dieser neuen Route. Es folgt ein bequemer Stand auf einem Band. Von hier können wir das Felsdach einsehen, das uns vom darüberliegenden leichteren Gelände trennt. Im Dach lässt sich noch ein Cam legen, bevor es ernst wird... Später werden wir diese Länge mit M7 bewerten, was vielleicht nach nicht viel klingt. Aber hier oben und schwer beladen muss man schon schauen, wo man bleibt. Im Stil einer Schneefräße arbeite ich mich weiter über ein schmales Band, und grabe schließlich einen Standplatz der Route „Morbus Flattermann“ aus, die wir hier zum zweiten Mal kreuzen. Nach einer weiteren Mixed-Seillänge ist der Ausstieg zum Greifen nah. Die letzte Seillänge verläuft schließlich nordwestseitig in einer kompakten Felsplatte. Wegen der oft starken Winde liegt hier kaum Schnee. So können wir die fürs Allgäu typischen Graspolster – im gefrorenen Zustand allerbestes Material, um daran zu klettern – gut erkennen. Über leichtes Gelände erreichen wir den letzten Stand von „Morbus Flattermann“, wo auch unsere neue Route endet.
Vier Tage waren wir mit dem Einrichten unserer Route beschäftigt. Während dieser Zeit und auch danach dachten wir auf der Suche nach einem passenden Routennamen in alle Richtungen. Schließlich kam Michaela, inspiriert vom Namen der benachbarten Route, auf „Morbus Brexit“. Es ist kein klingender Name und es gibt keinen direkten Bezug zu unserer Linie. „Morbus Brexit“ ist vielmehr ein Statement: Zusammen sind wir stark!
Erstbegehung
1. Begehung: Fritz Miller und Michaela Schuster nach dreitägigen Vorarbeiten am 27.01.19
1. Wiederholung und 1. Rotpunkt-Begehung: Fritz Miller mit Hannes Neubert am 31.01.19
Charakter
Absolut herausragende und sehr anspruchsvolle alpine Mixedkletterei durch die steile Nordostwand des Aggensteins. Wiederholer erwartet die ganze Bandbreite des Winterkletterns, inklusiv der am Aggenstein typischen Graskletterei. Alle Standplätze und Abseilstellen sind mit zwei Bohrhaken ausgerüstet, wobei es sich teilweise um Stände der Sportkletterroute „Morbus Flattermann“ handelt. Gebohrte Zwischenhaken gibt es nur in der zweiten Seillänge sowie in der letzten, wo ein einzelner Bohrhaken vorgefunden wurde. In der dritten und vierten Seillänge verläuft die Route im Bereich der „Direkten Nordostwand“ von 1965 (6 A3), um schließlich die zentrale Eisspur zu erreichen, welche im oberen Teil der Wand von einem Felsdach unterbrochen wird. Danach wird das Gelände etwas flacher, allerdings erfordert eine kompakte Platte am Ende der Route noch einmal volle Konzentration.
Zustieg
Vom Skigebiet Breitenberg mit Tourenski zum Einstieg. Der Hang steilt zur Wand hin immer weiter auf, zuletzt sind es gut 35 Grad. Mit Blick auf die Lawinengefahr im Zweifelsfall besser in Falllinie des Einstiegs aufsteigen (etwas weiter aber günstigeres Gelände) anstatt den ganzen Hang unter der Wand von rechts her zu queren.
Die einzelnen Seillängen
1. SL 35 m M4 Schnee- und Graskletterei auf breiter Rampe. Stand rechts in Gufel.
2. SL 35 m M5+ Exponierte, leicht ansteigende Querung (4 BH mit Markierungsschlingen) zu Abseilstand von „Morbus Flattermann“.
3. SL 45 m M6+ Vom Stand links haltend zu rinnenartiger Risspur, direkt links der NH der „Direkten Nordostwand“. Dort brauchbare Sicherungsmöglichkeiten. Weiter über die „Direkte Nordostwand“ bis zu Schnee-/Eisfeld nach 30 m. Hier Zwischenstand möglich an 3 NH + FK. Besser aber 15 m weiter klettern zu Stand unter steiler, gelber Wand (2 NH, dann schwer absicherbare Graskletterei, M5+).
4. SL 20 m M6+ Kurze, steile Länge. Überwiegend Drytooling oder bei wenig Schnee teilweise mit den Händen klettern. Zunächst Querung nach rechts zu steilem Riss (mehrere NH). Diesem folgen, bis man nach knapp 15 m die Linie der „Direkten Nordostwand“ nach links verlässt. Exponierter Stand auf einer Kanzel.
5. SL 50 m M6 WI4+ Leicht links haltend, erreicht man nach 45 m spektakulärer Eis- und Mixedklettererei ein offensichtliches Band. Diesem nach rechts zum Stand vor der Kerze folgen (dort auch Wandbuch).
6. SL 25 m M7 WI4- Wasserfalleis, offensichtliches Felsdach, zuletzt lange Rechtsquerung über ein schmales Band, das bei viel Schnee unangenehm sein kann (mehrere NH mit Markierungsschlingen). Der folgende Stand, er gehört zur Route „Morbus Flattermann“, muss evtl. freigelegt werden. Man orientiert sich dabei an den darüberliegenden BH.
7. SL 30 m M4+ WI4- Weiter rechtshaltend über kurze Säule in moderates, kombiniertes Gelände. Nach 20 m FK mit Markierungsschlinge. Dem logischen Weg folgend zu Stand knapp links einer markanten Kante.
8. SL 58 m M4+ und Gehgelände Kompakte Platte rechts der Kante (nordwestseitig). Graskletterei mit heikler, schwer absicherbarer Einzelstelle (frühzeitig Grasanker setzen). Nach knapp 20 m BH (vorgefunden). Dort möglicher Zwischenstand bei Verwendung von 50-m-Seilen. Zuletzt entlang des Nordgrates zum letzten Stand von „Morbus Flattermann“ (schwach ausgeprägter Felskopf).
Abstieg am besten durch Abseilen
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